Der Wert Grüner Grundwerte
Rechthaben als Denk- und Argumentationsweise basiert auf der Überzeugung, über einen fixen Wertekanon zu verfügen, mit dem Handeln beurteilt werden kann. Zu oft werden auch die Grünen Grundwerte in diesem Sinne als grünes Moralgesetz missverstanden. Dies ist eine individualistische Lesart, die insofern rechtem Gedankengut nahesteht, als sie Werte als unabänderlich und klar definiert sieht. Die im Grünen Parteiprogramm 2001 festgeschriebenen Grundwerte solidarisch, basisdemokratisch, gewaltfrei, ökologisch, selbstbestimmt und feministisch verstehen sich aber nicht als grüne Gebote, sondern als Orientierung zur Gesellschaftsveränderung, zur schrittweisen Umsetzung einer anderen, noch nicht existierenden Gesellschaft. Sie sind daher ebenso in Bewegung wie die Gesellschaft, in der wir agieren. Es ist diese linke, dialektische Lesart von Werten, die einer Grünen Partei in Zeiten des Umbruchs Orientierung und Perspektive geben kann. Selbstkritisches Lernen wäre dann das Gegengift gegen Besserwisserei.
Werte sind in Bewegung
Im Auftrag der Grünen Bildungswerkstatt verfasste Stefan Probst 2012 das bisher einzige Buch zu den Grundwerten der österreichischen Grünen: Grüne Grundwerte. Überlegungen zu den ethischen Grundlagen grüner Politik.[1] Stefan Probst beschreibt die Potentiale und die Grenzen von Wertediskussionen, was Werte können und wo Gefahren schlummern. In diesem Zusammenhang organisierte ich auch einen Workshop mit der feministischen Marxistin Frigga Haug. Ich erinnere mich noch gut an Friggas Misstrauen gegenüber moralischen Verhaltensaufrufen. So meinte sie: „Sätze, die mit ´Du sollst´ anfangen und dann etwa weitergehen ´feministisch handeln´, blamieren sich schon, bevor sie ernsthaft ausgesprochen sind.“ Frigga Haug entpuppte sich zu meiner Überraschung als scharfe Kritikerin von Wertediskursen. Ihre Skepsis gegenüber einem dogmatischen und individualisierenden Werteverständnis verdanke ich ihr ebenso wie die Überzeugung, dass die Kunst der Politik nicht auf einem Wertekanon aufbaut, sondern auf einer guten Analyse der aktuellen Situation.
Werte bieten Orientierung
Auch Stefan Probst versteht in seinem Buch Grundwerte nicht als grünen Katechismus: „Grundwerte bieten Orientierungen, aber keine Handlungsanweisung für die Politik ´im Handgemenge´“. Die Grundwerte seien keine sechs Gebote, die von den Gläubigen einzuhalten sind und den Sündigen entgegengehalten werden können: „Du bist nicht basisdemokratisch“ oder „Du verletzt den Grundwert feministisch“. Probst setzt hingegen auf eine Moral, „die gerade nicht auf die isolierte Bewertung individuellen Handelns bezogen ist.“ Der individualisierende Gebrauch von Werteanrufungen führt in jene Sackgasse, in der sich zahlreiche Religionen und Weltanschauungen verlaufen haben. Es geht nicht um eine Grundwertebeichte, wenn ich in ein Flugzeug steige. Wohl aber gilt es zu thematisieren, wie wenig die Grünen als Partei das Fliegen problematisiert und wie zaghaft die Kritik an der dritten Landepiste ausgefallen ist.
Grundwerte stehen meist in Spannungsverhältnissen zueinander, manchmal in offenem Widerspruch. Dass bestimmte Formen der Altenpflege aufgrund „solidarischer“ Schutzbestimmungen verboten sind, schränkt die Selbstbestimmung ein. Dass eine Bezirksvorsteherin das Parkpickerl aus ökologischen Gründen einführte, obwohl davor zwei Meinungsumfragen mehrheitlich dagegen ausgegangen sind, wurde als undemokratisch kritisiert. Stefan Probst hat recht: „Im Handgemenge“ alltäglichen politischen Handelns helfen die einzelnen Grundwerte isoliert nicht weiter. Sie liefern nicht die ersehnten grünen Gebote, wie in hochkomplexen Gesellschaften ethische Entscheidungen zu treffen sind. Es braucht die Analyse, wie in der konkreten politischen Situation die Ziele grüner Politik bestmöglich umgesetzt werden können. Manchmal wird Augenmaß gefragt sein, manchmal Radikalität.
Rechte und linke Werteschema
Das beste Kriterium, rechts und links zu unterscheiden, ist für mich, ob politische Projekte ein gutes Leben für einige oder für alle anstreben: das gibt bei der Diskussion um die Mindestsicherung ebenso Orientierung wie in der Verkehrspolitik. Darüber hinaus kann aber auch ein rechtes Werteschema von einem linken unterschieden werden. Ersteres ist statisch-dogmatisch, zweiteres sollte historisch-kritisch sein. Für Rechte gibt es ewig gültige Werte, zum Beispiel die „westlichen“. Menschen, die zu uns kommen, habe diese zu „lernen“, damit sie dazugehören. Sie haben sich zu ändern, wir nicht. Ich will keine Grüne Partei, die Grüne Grundwerte zu ewig gültigen machen will, und wir ewig dieselben bleiben wollen. Dazugehören dürften dann nur jene, die sich diese im Sinne herrschender grüner Auslegung aneignen. Ein derartiges Werteverständnis eignet sich nicht für eine politische Organisation, die die Verhältnisse hier und jetzt – und damit auch die hier und jetzt vorherrschenden Vorstellungen von richtig und falsch – verändern will. Es eignet sich nicht für eine politische Bewegung, die wachsen will und breite Allianzen braucht, um den Rechtsruck zu stoppen.
Die Grünen wurden nicht mit einer fixen Identität gegründet, sondern sind aus sozialen Bewegungen entstanden. Daher sind Grüne Grundwerte in Bewegung - genauso wie die Welt, in der sie angewandt werden. Man kann zum Jugoslawienkrieg stehen wie man will. Tatsache ist, dass seit dem Krieg vor unserer Haustür die Grüne Position zum Grundwert gewaltfrei grundlegend anders ist als davor. Grundwerte „haben“ enthebt nicht der schwierigen Aufgabe des Abwägens inmitten des Ensembles grüner Werte. Im konkreten Fall erinnert der Grundwert „gewaltfrei“ daran, dass Gewalt zur Eskalation tendiert und gewaltfreie Konfliktlösung auch realpolitisch sinnvoll sein kann (aber nicht muss). Bis in die 1990er Jahre waren die Grünen, die Partei der Friedensbewegung, mehrheitlich pazifistisch. Mit Johannes Voggenhuber und Alexander van der Bellen setzte sich – gegen den damaligen GBW-Obmann Wilfried Graf – die Überzeugung durch, dass militärische Interventionen zum Schutz von Zivilbevölkerung mit dem Grundwert „gewaltfrei“ vereinbar sind. Wenn man – wie ich – die Politik der Sicherung von Menschenrechten mit Hilfe militärischer Interventionen problematisch sieht, reicht es aber nicht, den BefürworterInnen die Verletzung von Grundwerten vorzuwerfen. Notwendig ist, Fall für Fall die Pros und Contras zu diskutieren – in Kobane genauso wie in Libyen und Syrien. So mag eine feministische Perspektive Interventionen sinnvoll erscheinen lassen, oder die Solidarität mit Kurden gegen eine Nicht-Intervention sprechen. Und vermutlich war die Militärintervention in Libyen gleichermaßen gewalttätig und falsch.
Kunst des Abwägens
Was heißt das für die aktuelle Wertediskussion? Die Kunst der Politik besteht in guter Analyse und dem Abwägen von Optionen vor dem Hintergrund ethischer Überzeugungen. Werte geben dabei Orientierung für die Verbindung von utopischem Anspruch und konkreter politischer Umsetzung. In den letzten Jahren waren die Wiener Grünen immer wieder innovative Kraft, die Veränderungen angestoßen hat. Doch die schritt- und ansatzweise Umsetzung grüner Ziele braucht die Unterstützung sozialer Bewegungen, engagierter BürgerInnen und kompetenter Fachleute. Diese Gruppierungen sind wichtige BündnispartnerInnen, mit denen besonders intensiv zusammengearbeitet werden muss, diskutieren werden muss, wie mit der Diskrepanz zwischen Sein und Sollen umgegangen wird. Hier hat die Grüne Regierungsarbeit in Wien offensichtliche Schwächen.
Indem zum Beispiel bei der Heumarkt-Diskussion agiert wurde, wie agiert wurde, stehen wir Grüne vor zwei unattraktiven Alternativen mit ihrer je eigenen politisch-ethischen Perspektive, deren edelste Varianten folgende sind: Das Lager der GegnerInnen sieht in diesem Projekt einen Kniefall vor Investoren mit drohendem Dominoeffekt für die Stadt und nachhaltigem Prestigeverlust für die Grünen. Tatsächlich hat das Heumarkt-Projekt zur Entfremdung zwischen Grünen und vielen kritischen PlanerInnen, ArchitektInnen und engagierten BürgerInnen geführt. Ohne deren Unterstützung ist progressive Planungspolitik aber auf Dauer nicht möglich.
Das Lager der BefürworterInnen sieht in der Abkehr von diesem Projekt die Gefahr einer Koalitionskrise mit unabsehbaren Folgen. Die Grünen würden Stärke und Legitimation genau zu einem Zeitpunkt verlieren, zu dem Wien nicht nur weiterhin europaweit Vorbild moderner Stadtpolitik ist, sondern auch das verbleibende Bollwerk, das in Österreich eine existenzsichernde Mindestsicherung verteidigt. Die einzig garantierten Gewinner aus der aktuellen Krise seien FPÖ und Boulevard – eine fatale Entwicklung für ein weltoffenes, nachhaltiges und solidarisches Wien.
Der grüninterne Streit lenkt davon ab, dass wir uns in Wien in fortgesetzten Wertekonflikten befinden – um eine weltoffene Gesellschaft und den sozialökologischen Umbau einer wachsenden Stadt. ´Im Handgemenge´ dieses Kulturkampfs ist man zwangsläufig mit Widersprüchen konfrontiert, stehen Werte gegen Werte. Schlimmes sollte vermieden, Neue muss gewagt werden, um den großen, durch die Grundwerte benannten Zielen grüner Politik hier und jetzt ein stückweit näher zu kommen. Das erfordert dialektisches Denken, respektvolles Abwägen von Argumenten und Strategien. Im Sinne von Frigga Haug bräuchte es dazu weniger vornehme Werteluft, sondern genaue Analysen, reflektierendes Suchen und schließlich klares Entscheiden. Ob wir Grüne das schaffen?
[1] Das Buch ist über die Grüne Bildungswerkstatt zum Preis von 10 Euro erhältlich. Bestellungen an buero(at)gbw.at
Andreas Novy ist Obmann der Grünen Bildungswerkstatt und Mitglied des Bundesvorstands der Grünen.